… oder die Anfänge und die Entwicklung des Fallschirmsports in den Nordbezirken

Kapitel 4: Ein schwieriger Neubeginn

Nach der Schließung von Purkshof und dem Ausscheiden von Udo und Gisela herrschte eine gewisse Unsicherheit, wie es ohne Hauptamtlichen weitergehen sollte. Für die beiden ehrenamtlichen Lehrer Klaus Rosenberg und mich war die Weiterführung des Geschäftes allein schwer bis unmöglich, schließlich hatte man noch andere Verpflichtungen, ich z. B. mein Studium. Den wichtigsten organisatorischen Kram machte zwar der fliegerische Oberhäuptling beim Bezirksvorstand in Rostock, Gerhard Zinke, es blieb aber noch eine Menge Kleinkram. Die Schirme lagen im Kreisvorstand Rostock- Land in der Baracke an der Rennbahn (Nähe Fernsehturm) und mussten von dort auf den jeweiligen Sprungplatz transportiert werden usw. Auf jeden Fall kamen wir Anfang 1963 schwer in Gange. Am Schluss klappte es nur, weil mit dem bereits erwähnten Rolf Schmilk aus Schönhagen (inzwischen auch Sprunglehrer) hauptamtliche Hilfe kam.

Voran es im Einzelnen lag, dass es in den ersten Sommermonaten der bewussten Saison nicht lief, weiß ich auch nicht mehr. Tatsache ist aber, dass ich mit nur zwei Sprüngen Vorbereitung gemeinsam mit Klaus Rosenberg und Herbert Stern zu den ersten DDR- Meisterschaften im Fallschirmsport fuhr, die vom 05. bis 10.08.1963 in Schönhagen stattfanden, Wenn ich mich recht erinnere, wurden sie sogar als Deutsche Meisterschaften deklariert, damals machte man noch auf Einheit. Mit irgendwelchen guten Platzierungen konnten wir eh nicht rechnen, da wir mit unseren T- 2 sozusagen hoffnungslos „untermotorisiert“ waren; die anderen sprangen ausnahmslos leistungsfähigerer Schirme aus Seifhennersdorf (RL- 3, RL- 3/2) oder Importmodelle. Außerdem war ich mit meinen bis dato 89 Sprüngen der bei weitem unerfahrenste Teilnehmer. Nur der Verletzung einiger Konkurrenten war es zu danken, dass ich hinten aber nicht ganz hinten landete. Es war aber trotzdem ein Erlebnis. Die Medaillen holten erwartungsgemäß die Leute von Dynamo, wer genau, weiß ich nicht mehr (Bild 12).

Bild 11: Erste Deutsche Meisterschaft im August 1963 in Schönhagen.
Ich gucke – wie üblich – blöd in den Himmel, rechts neben mir ein Kumpel aus Cottbus (Name?), die kleine Dunkelhaarige war m. E. aus Dresden,
daneben Veronika Werk Erfurt oder Gera, außen zwei Mann von Dynamo 2. Mannschaft, ebenso der ganz links in ähnlicher Montur.
Die Antonow war wohl von der NVA für die Meisterschaft abgestellt. Im Hintergrund ein Tankwagen des berühmten sowjetischen Typs SIL
(Sawod Imenii Lichatschowa auf deutsch: Werk namens Lichatschow). L. war damals der sowjetische Automobilminister. Kein Scherz, den gab es wirklich!

Für mich endete die Meisterschaft wieder mit einem „Vorkommnis“. In Schönhagen hatte ich einfach immer nur Pech (die übliche Ausrede aller Trottel), und das ging so: Auch 1963 war die Gummileine immer noch nicht erfunden, die Jagd nach dem Verzögerungssack also nach wie vor die erste Amtshandlung nach der Landung. Es war wohl der letzte Tag der Meisterschaft und Freifall stand auf dem Programm. Die „Oberliga“ wie Dynamo sprang zwar schon Figuren, wir aus der Bezirksliga waren aber noch mit einem sauberen Freifall zufrieden. Gewertet wurden Abweichungen von der Ideallage durch drei Schiedsrichter, die dazu durch große Ferngläser guckten und um was zu sehen, die Sonne im Rücken haben mussten, an Video und ähnliche Scherze war damals gar nicht zu denken. Abgesetzt wurde also so, dass die Schiedsrichter was sahen, egal wo der Springer dann landete. An jenem Tag war das meist der Kienberg auch Monte Kien genannt, eine kahle, mit Heidekraut und kleinen Birken bewachsene Kuppe am Rande des Flugplatzes. Da die Starts schnell aufeinander folgten und der Fußweg zur Packzone doch ziemlich zeitaufwändig gewesen wäre, gab es einen Rückholdienst. Rückholfahrzeug war ein alter Russenjeep d. h. der Nachbau des entsprechenden Ami- Modells aus dem 2. Weltkrieg. Wegen des warmen Wetters und wohl auch wegen der besseren Sicht, waren Verdeck und Frontscheibe umgeklappt. Es war also so eine Art Kabrio, was für die Geschichte durchaus wichtig ist. So hing ich denn am Schirm über dem Monte Kien und sah meinen Verzögerungssack ganz nahe der Piste landen, auf welcher der Jeep ankam um mich abzuholen. Beseelt von dem Wunsch, möglichst auch am Landepunkt meines Verzögerungssacks zu landen, steuerte ich eben diesen Punkt an. Wie es kommen musste: Der Fahrer (Springer aus Cottbus, Name?) dachte wohl, dass ich vor ihm landen, ich erwartete, dass er weiterfahren würde. Das Ende vom Lied: er hielt an und ich donnerte hinten auf den Rücksitz. Zwar gab keinen Personen- und nur geringen Sachschaden, ich war aber nun schon zu zweiten Mal der Depp von Schönhagen, da für den Fahrer Diskretion natürlich ein Fremdwort war und er nichts Eiligeres zu tun hatte, als meinen kleinen Fehltritt überall auszuposaunen. (Hätte ich aber an seiner Stelle wohl auch gemacht).

Nach der Meisterschaft muss dann Klaus Rosenberg aufgehört haben, ich finde danach seine Unterschrift in meinem Sprungbuch nicht mehr. Zu den Gründen für sein Ausscheiden könnte er nur selbst was sagen. Er wohnt irgendwo im Rostocker Nordwesten (Lütten Klein, Lichtenhagen oder so).

Bevor ich das Jahr 1963 weiter abhandeln kann, müssen wir noch mal in das Frühjahr (Mai) zurückgehen, als uns eine Sprungschülerin einige sehr bange Sekunden bescherte. Aber der Reihe nach. Ich hatte- als frischgebackener Lehrer- in dem Winter in Rostock eine Truppe von etwa 10 Leuten ausgebildet, Männlein und Weiblein. (Die Ausbildung fand in der bereits erwähnten Baracke an der Rennbahn statt). Diese sollten in Güstrow nun ihre ersten Sprünge machen. Nach meinem Sprungbuch war das der 23.05., Sprungleiter war der bereits erwähnte Rolf Schmilk, Pilot der eingesetzten L-60 ein gewisser Landgraf aus Anklam (im Hauptberuf Mistflieger). Der Startaufbau war am hinteren (östlichen) Platzende, nahe dem Übungsgelände der Iwans, am so genannten Franzosenhügel. Unter den Anfängern war auch eine meiner Schülerinnen. Den Namen weiß ich nicht mehr, erinnere mich aber, dass es ein kleines, gut gebautes Frauenzimmerchen war. Nun muss man wissen, dass in der L- 60 der Springer- in diesem Fall natürlich die Springerin- die Leine in einem Ring am Pilotensitz einhängen musste. Der zweite Springer hatte dann die Leine des ersten einzuholen, auszuklinken, seine eigene einzuhängen und dann erst dann zu springen. Beim dritten sollte das ebenso laufen. Dieses Einholen, Ausklinken und Einhängen versäumte die bewusste Schnecke, pflanzte sich mit ihrem (wohlgeformten) Popo auf die Leine des Vordermanns und wartete auf das Sprungkommando. Freund Landgraf griff an den Ring, erfühlte einen Karabinerhaken und in dem Glauben, dass es die Leine unserer Hübschen war, ließ er sie springen. Sie sprang und fiel und fiel und fiel mit nach wie vor geschlossenem Schirm, wurde groß, größer und immer größer, wir unten blass, blässer und noch blässer und kniffen in Erwartung des Aufschlags schon die Augen zu. Im aller-, aller-, wirklich allerletzten Moment merkte sie wohl selbst, dass da irgendetwas faul war und zog den manuellen Griff. Der Schirm ging auf, sie schaukelte ein oder zwei Mal und war unten. Plumps machte sie und Plumps machten auch die Steine die uns vom Herzen (wahrscheinlich eher aus der Hose) fielen. Während ihres Freifalls rannte ein kleiner Iwan mit ausgebreiteten Armen zur voraussichtlichen Aufschlagstelle um die Fallende aufzufangen. Das hätte, außer einem ganz dollen Aua für ihn, zwar nichts gebracht, hier zählte schon allein der gute Wille. Das war mal endlich praktische deutsch- sowjetische Freundschaft. Die Kleine sprang nach der Landung hin und her und fand ihren ersten Sprung richtig toll. So ist das mit dem Mut der Unwissenden.

Es gab noch ein zweites Vorkommnis, allerdings bei den Segelfliegern. Einer von diesen macht seinen ersten Alleinflug und vergaß beim Landeanflug die gleichnamigen Klappen auszufahren, weshalb der Platz ganz schnell zu Ende war. Da an der Platzkante eine Pappelreihe drohte landete er im Sturzflug. Es gab einen dumpfen Knall, das Sperrholz wirbelte durch die Luft und der Flugschüler saß auf seinem Sitz sozusagen im Freien. Trotz des mehr oder weniger „unangespitzten“ Einschlags hatte er (außer einem leichten Nasenbluten) keine erkennbaren Blessuren davongetragen. Vorsichtshalber wurde er aber doch ins Krankenhaus gefahren, man weiß ja nie. Nach Sprung- und Flugsbetriebsende erinnerte man sich des Unglücksraben. Ein in Richtung Krankenhaus abgeschicktes Fahrzeug traf ihn aber schon auf dem Heimweg an. Als er mit der Untersuchung fertig war und niemand kam ihn abzuholen, machte er sich eben zu Fuß auf den Heimweg. Es waren auch höchstens 5 km. Was lernen wir daraus: Die Dummen haben immer Glück, man kann auch ohne permanente Kommunikation mit Mama, Papa und Flugplatz überleben und an ein oder zwei Stunden Fußmarsch ist noch keiner gestorben. Es waren eben doch andere Zeiten.

Im August gab es dann noch einen richtig guten Lehrgang mit schönem Wetter und vielen Sprüngen, meinen ersten in Neustadt- Glewe. Der nächste muss dann im Oktober gewesen sein, ebenfalls in Neustadt. Er endete aber- im Gegensatz zu dem eben geschilderten Vorkommnis- schon nach wenigen Starts auf tragische Weise, weshalb sich in meinem Sprungbuch auch keine Eintragung findet. Ich kam auf jeden Fall zu spät, d.h. der Sprungbetrieb hatte schon begonnen, stellte meine Sache ab und ging noch in „Zivil“ zum Start, um mich anzumelden und erst einmal die Lage zu peilen. Draußen auf dem Platz stand der AN- Mechaniker aus Schönhagen, dessen Namen ich aber vergessen habe, Schmidtchen war es auf jeden Fall nicht. Kaum hatte ich mit dem ein paar Worte gewechselt, als die Umstehenden plötzlich wie gebannt nach oben starrten. Was sie (und dann auch wir) sahen, war nicht erfreulich. Ein Springer- wie sich später herausstellte eine Springerin- ging mit Fahne zu Boden, ohne das Ersatzgerät zu ziehen oder überhaupt einen Versuch zu machen, aus dieser Klemme herauszukommen. Mit einem dumpfen Schlag schlug er/sie in der Nähe des Objekts auf. Die Aufschlagstelle muss etwa im Bereich des alten Manifestes liegen. Sie war durch einen Betonstein mit den Initialen EN (Erika Neumann) und dem Datum markiert. Erika Neumann kam aus Greifswald und es war ihr erster, gleichzeitig auch letzter Sprung. Ursache war (wahrscheinlich) ein Fehler beim Einschlaufen.

Dazu muss man wissen, dass damals auf dem Verzögerungssack Stoff- und keine Gummischlaufen angebracht waren und man zum Packen ein komplettes Packbesteck bestehend aus Packhaken, Packrahmen und Schrotsäcken zum Beschweren der gelegten Kappe benötigte. Gepackt wurde ohnehin zu Zweit.

Der Lehrgang war nach mit diesem Unfall natürlich zu Ende.

Danach wurde es etwas makaber. Wegen der noch ausstehenden kriminaltechnischen Untersuchungen blieb die Leiche, natürlich abgedeckt, die Nacht über draußen liegen. Das eingeteilte Wachkommando entzündete daneben ein wärmendes Feuerchen und spielte Karten, um sich die Zeit zu vertreiben. Am nächsten Tag wurde es fast noch lustig, als der von zwei Pferden gezogene Neustädter Leichenwagen kam. Wie früher üblich, hatte er einen schwarzen, spitzenverzierten Baldachin, der von gedrehten Säulen getragen wurde, so wie in dem Film „Die glorreiche Sieben“, der eben zu dieser Zeit mit großem Erfolg in den Kinos lief und im dem Yul Brynner und Steve McQueen auf ebenso einem Wagen und unter beträchtlichen Geballer durch ein räudiges Nest im wilden Westen fuhren. Die Neustädter Leichenfahrer waren aber unbewaffnet, so dass das Feuergefecht ausfiel. Der traurige Anlass verbot aber in diesem Fall das Lachen.

Das war übrigens schon der zweite tödliche Unfall jenes Jahres in der DDR- Springerei. Im Frühjahr war einer- auch ein Sprungschüler- mit geschlossenem Schirm in Zwickau auf eine Gartenlaube geknallt. Davon wird in einem der nächsten Kapitel noch die Rede sein.

Zu mindestens für mich war das ereignisreiche Jahr 63 noch nicht zu Ende, ich fuhr im November zum Nachtsprunglehrgang nach Riesa, gleichzeitig Sichtungslehrgang für die geplante GST- Auswahl. Neben einem umfangreichen Sporttest unter Aufsicht von Dieter Strüber wurden noch Überprüfungssprünge gemacht, natürlich bei Tage. Für mich kam die Auswahl nicht in Frage, denn ich musste im übernächsten Jahr mein Diplom machen, außerdem war ich wohl auch zu taub bzw. es gab ausreichend bessere Kandidaten. Das Nachtspringen war dann aber richtig toll. Bei Neumond und dichter, aber ausreichend hoher Bewölkung war es unten auf dem Platz „finster wie im Bärenarsch“. Man sah wirklich nicht die Hand vor Augen. Am Schirm war das erstaunlicherweise ganz anders. So konnte man die Hecken und Baumgruppen auf den angrenzenden Flächen in Grautönen deutlich erkennen. Höhepunkt war ein nächtlicher Freifallsprung. Der Platz hatte natürlich keinerlei Befeuerung, nur um das Zielkreuz standen ein paar Grubenlampen. Am Ersatzgerät hatte man eine Taschenlampe an einer 10m langen Leine. Die ließ man nach der Öffnung runter. Einmal sah man in Bodennähe den Lichtkegel auf der Erde, wenn dann die Lampe aufschlug hatte man noch 2“ Zeit bis es bumste und man konnte noch rechtzeitig die Knochen zusammennehmen.

Kapitel 5: Neue Heimat Neustadt- Glewe (Marianne Oesterreich)

Ab wann die Springerei in Neustadt- Glewe ein endgültiges Unterkommen gefunden hatte, ebenso seit wann Neustadt die Rolle von Purkshof als hauptamtlicher Motorflugstützpunkt übernommen hat, kann ich nicht mehr genau sagen. Wahrscheinlich war das Mitte 1963. Allerdings gibt es noch genug Leute, die das noch genau wissen müssten wie z. B. Klaus Barganz, auch schon seit etwa 1960 im Geschäft (damals Segelflieger in Purkshof). Ebenso kann ich mich nicht erinnern, wann Marianne OI (Oberinstrukteur) Fallschirmsport wurde, vieles spricht für 1964. Auf jeden Fall hat sie etwa 1962 in Güstrow mit der Springerei begonnen, wo sie an der Agraringenieurschule in Bockhorst studierte. Das Zwischenspiel mit Wolfgang Mein habe ich schon erwähnt.

Ich weiß es auch deshalb nicht genau, weil ich im ersten Halbjahr 1964 ein Gastspiel im Süden (Bez. Karl- Marx- Stadt) gab. Seit Beginn des Herbstsemesters 63 war ich nämlich für ein Jahr in Freiberg. Dort an der Bergakademie mussten die Rostocker Geologen ihr 4. Studienjahr absolvieren, dann ging es zur Diplomarbeit wieder zurück an die Küste. Als nun im Frühjahr die Sonne höher stieg und die Sprungsaison begann, meldete ich mich bei Vinzenz auf dem alten Flugplatz in Karl- Marx- Stadt, Stollberger Straße. Der lag am damaligen Stadtrand und existiert heute nicht mehr, weil er Ende der 60er mit einem Neubauviertel überbaut wurde. Ich wurde mit offenen Armen empfangen und gleich herzlich in die Truppe aufgenommen. Mit inzwischen 125 Sprüngen und Lehrerlizenz war ich eine willkommene Verstärkung. Dass ich „Fischkopp“ tituliert wurde, juckte mich nicht, denn was stört einen Adler das räudige Gekrächz der Krähen. Und es war wirklich eine gute Truppe. Meinem Sprungbuch entnehme ich folgende Namen: Klieber, Mrosowski (Moro), Kaule (damals schon Mitte 50, hatte bei Adolf für die damalige Zeit unglaubliche 200 Sprünge gemacht), Dietrich, Ede Weber (später mit der Maria Lange verheiratet), Grimm, Storch, ein Mister X, wegen seines roten Sprunganzugs nur der „Rote Kampfflieger“ genannt, der lange Rolf Buchner und „last but not least“ der „Chef vons Janze“ Vinzenz Prczybicyn (Nachname hoffentlich richtig geschrieben). Vinzenz war jemand, über den man schon ein paar Worte mehr verlieren muss. Damals vielleicht Mitte 40 kam er von der Wismut (Bergbaubetrieb der im Erzgebirge und Vogtland Uran für die Sowjetunion abbaute). Ein recht großer (ca. 1,85), kompakter Kerl mit deutlich über 100 Kilo, große Hände wie Grabpfoten, dabei Ähnlichkeiten mit dem braven Soldaten Schwejk (rundes Gesicht, dicke Nase, große runde Augen). Diese detaillierte Beschreibung ist für ein späteres Kapitel noch von Bedeutung (Bild 12).

Bild 12: Vinzenz Prczybicyn in der „Dienstuniform“ der Hauptamtlichen. Das Bild ist zwar aus dem Jahr 1979
und entstand in Großrückerswalde. So ähnlich sah er aber 15 Jahre früher auch schon aus, als ich in
Karl-Marx-Stadt war. Hinter ihm Blasi aus Magdeburg, zu diesem Zeitpunkt springerisch nicht mehr aktiv,
sondern wie Vinzenz Schiedsrichter.

Von Hause aus ein ziemlicher Blubberkopp, war er trotzdem gut zu leiden und ich kam mit ihm sehr gut aus (er mit mir offensichtlich auch). Schließlich hatte er die Gummileine erfunden und darauf sogar ein Patent erworben (oder erfand sie bald danach). Außerdem stammte der folgende bedeutsame Spruch von ihm, gerichtet an die Sprungschüler: „Den ganzen Tag sieht man die Kerle nicht, aber zum Fressen sind sie alle wieder da“.

Das bewahrte ihn aber nicht davor, von seinen Kumpeln bös aufs Kreuz gelegt zu werden und das ging so: Damals bekamen die hauptamtlichen Sprunglehrer eine Gehaltszulage. Voraussetzung war eine gewisse Anzahl von Sprüngen pro Jahr oder Monat. Vinzenz, damals schon in den Jahren und ohnehin nicht der Supersportler, ließ es mit der Springerei eher ruhig angehen. Sprunggeil war er wirklich nicht mehr, offensichtlich aber im Rückstand mit seinen Pflichtsprüngen. An einem wunderschönen Tag (ich war selbst auf dem Platz und garantiere, dass jedes Wort wahr ist) mit allerdings extremen Windverhältnisse (kein Bodenwind, oben aber mächtiger Priem von min. 25 m/s), die unser Vinzenz aber nicht kannte, belöffelten ihn seine Altersgenossen- wir jungen Spunde hätten uns das nie getraut- doch endlich seinen fehlenden Sprung zu machen, die Bedingungen wären doch so toll. Er ließ sich breitschlagen. Am Start wurde ihm eingeredet, dass er über dem Kreuz raus müsse, was er wegen des schwachen Bodenwindes auch glaubte und dann auch beherzigte. Er also in 2000m Platzmitte raus, es machte schnurr und er hing am Schirm, die Brüder hatten seinen Automaten verstellt (wenn man an dem Automaten eine Höhe einstellte, die über der Absprunghöhe lag, zog er nach 3‘‘ s.o.). Ich glaube er sprang sogar einen PD. Egal, er fegte über ganz Karl- Marx- Stadt. Als er wirklich nach Stunden vom Feindflug zurückkehrte, stand er unter Volldampf. Da die Übeltäter sich wohlweislich verdrückt hatten, kriegten wir Jungspunde es ab, aber so richtig, obwohl wir völlig unschuldig waren und von der Aktion erst erfahren hatten, als er schon in der Luft war. Es kommt mit Vinzenz aber noch viel besser, nur noch ein paar Kapitelchen Geduld.

Da fällt mir eine weitere Geschichte ein, die damals in Springerkreisen kursierte und mit der Vinzenz Furore machte: Als ein Flugschüler sich kritisch über die Funktionsfähigkeit von Fallschirmen äußerte soll er dem Zweifler einen MPLK- 49 umgehängt (MPLK sowjetischer Motorflug- Rettungsschirm, quadratische Kappe wie PZ 47, Sitzschirm) und ihn hinter ein Jak 18 mit laufendem Triebwerk gestellt haben. Auf ein entsprechendes Zeichen hin zog der Schwachkopf, der Schirm ging schlagartig auf und der Luftstrom fegte ihn in einem am Platzrand abgelegten Bretterstapel. Da der Kerl etwas zu Schaden kam, soll V. einen reingewürgt gekriegt haben.

Damit noch nicht genug der Vorkommnisse: Am Rande des Platzes in Karl-Marx-Stadt lag ein etwa 80m tiefer Steinbruch. Ein Sprungschüler hatte ein Problem, sein Hauptschirm ging nicht auf und er verschwand in dem Loch. Auf Höhe Rasensohle muss er dann aber doch noch gezogen haben und zwar das Ersatzgerät und die 80m reichten. Als man am Rand des Loches ankam und Schlimmes erwartete, grinste er den Helfern von Grund des Loches unverletzt entgegen. Ein Loch an der richtigen Stelle kann doch recht hilfreich reich.

Ich machte in dem halben Jahr so 35 Sprünge, für damalige Verhältnisse eine ganze Menge, sowohl in Karl-Marx-Stadt, als auch in Zwickau. Einer von denen in Zwickau war einer der heikleren Sorte. Es war lt. Sprungbuch am 31.05.64, einem Sonntag und es war eine Flugveranstaltung. Wir (Elli Reimer, Maria Lange und ich) sollten zeitgleich aus 3 L- 60 springen, im Freifall zusammenrücken und quasi als Dreieck fallen. So war es geplant. Abgesetzt wurde durch Signal von unten. Wir standen und standen auf dem Tritt. Endlich kam das verabredete Signal. Es klappte richtig gut, als wir dann aber am Schirm hingen war der Schreck groß, denn wir schwebten über dem riesigen Zwickauer Güterbahnhof mit Strom führenden Oberleitung und sonstigen Überraschungen. Das sah gar nicht gut aus, zumal es wegen schwachem Wind nur ganz langsam voran ging. Die Aussichten in Richtung Heimat waren nicht ermutigend: Erst kam eine Gartenanlage, dahinter eine Wiese und erst in weiter, weiter Ferne der Platz, den zu erreichen man aber keine Chance hatte. So blieb als Landeplatz nur die Wiese. Die beiden Mädchen, da wesentlich leichter als ich, schafften es noch „auf letzter Rille“, mich mit meinen damals vielleicht 85 Kilo erwischte es. Dummerweise lagen die Gärten quer zu meiner Fahrtrichtung und waren verdammt schmal. Entweder man riss sich an dem Stacheldraht des einen Zauns den Hintern auf oder knallte in den nächsten, beides keine angenehmen Aussichten. Aber was half es, der Boden kam schnell und unaufhaltsam näher. Da hieß es nur: „Augen auf und durch“. Es ging aber alles gut, ich donnerte in ein Erdbeerbeet, der Schirm fiel über den Apfelbaum und unten war ich. Kaum stand ich wieder auf den Beinen, kam auch schon der Gartenbesitzer um die Ecke gefegt- er hatte wohl auf der anderen Seite ein wenig in der Sonne gedöst und war durch meinen Einschlag geweckt worden- und hielt mir sofort eine Standpauke. Es stellte sich heraus, dass der Verunglückte vom letzten Jahr (s. o.) mit geschlossenem Schirm auf seine Laube geknallt war und diese halb weggerissen hatte. Dass nach nicht einmal 12 Monaten schon der zweite Verrückte ausgerechnet bei ihm landete, nahm er irgendwie persönlich. Er verabschiedete mich mit dem Vorschlag, beim nächsten Mal gefälligst doch jemand anderes zu beglücken. Meine Versicherung, dass auch ich auf eine Wiederholung überhaupt keine Lust hätte, stimmte ihn nicht milder. So schieden wir im Zorn.

Zu Pfingsten fand in jenem Jahr in Karl-Marx-Stadt ein Zielsprungwettkampf für Senioren statt. Senior war, wer mehr als 30 Jahre zählte. Das traf auf mich nicht zu, aber bei dieser Gelegenheit wurde versucht verschiedene (nationale Rekorde) im Zielsprung aufzustellen. In einem erfolgreichen Fall (8er- oder 10er- Gruppe aus 1000m) war ich dabei. Es gibt davon sogar ein Bild (Bild 13).

In meine Zeit in Freiberg fiel auch einer der ersten Großflugtage des GST am 04., 05. und 06.06.1964 in Erfurt. Der eigentliche Flugtag war wohl der 06. da der Sonntag. Ich war an dem Programmpunkt „Massenabsprung“ beteiligt. Es sprangen 30 oder 36 „Massen“ aus den drei AN- 2, über welche die GST inzwischen verfügte: DM- WCX, Y und Z, gesprochen „Xantippe“, „Yankee“, „Zeppelin“ (Piloten Richter, Deumeland und Prodolski, die Zuordnung muss aber nicht stimmen).

PG15

Bild 13: Karl- Marx- Stadt Pfingsten 1964. Vor oder nach dem Rekordsprung. Einige der Beteiligten von links: Unbekannt wohl aus Cottbus,
Grullich K-M-St., Udo „Mäuer“ Schulz aus Dresden, Wuttich oder Demuth Leipzig (verwechsele ich immer) und ich.

Die alte Regel: „Kein Sprung- oder Flugbetrieb ohne Vorkommnis“, bewahrheitete sich auch bei dieser Gelegenheit, betraf aber dieses Mal die technische Fraktion. Wir waren nämlich in einem Studentenheim der Pädagogischen Hochschule untergebracht, allerdings bei laufendem Betrieb, d. h. teilweise waren die Zimmer noch mit Studentinnen belegt. Es handelte um ein etwa zehngeschossiges Hochhaus. Nachts plötzlich ein Auflauf auf dem Flur! Was war geschehen? Ein Motorflug- Mechaniker aus Schönhagen war aus dem 3. oder 4. Stock auf den Mensa- Anbau gefallen und hatte sich den Arm gebrochen. „Na und,“ wird jeder fragen, „was ist denn daran so witzig?“. Abwarten! Bei der „Vernehmung“ der Zeugen und des Betroffenen stellte sich nämlich Folgendes heraus: Die Mechaniker wohnten in Schönhagen im ersten Stock. Da es dort damals nur Gemeinschaftstoiletten am Ende des Flurs gab, stieg man- wenn nachts die Blase drückte- aus dem Fenster auf den angrenzenden etwas flacheren Anbau des Essensaals, trat an die Dachkante und pullerte in den Garten. Das ergab immer so einen schönen Bogen. Nun hatte unser Mixer (Spitzname für Mechaniker) an diesem Abend wie üblich das eine und andere Bier getrunken, vielleicht auch das eine oder andere zu viel. Auf jeden Fall war er hundemüde und kroch frühzeitig ins Bett. Bald drückte natürlich die Blase. Taumelig vor Müdigkeit ging er zum Fenster und stieg wie üblich auf den Anbau, bloß dieser war erstaunlicherweise nicht da bzw. lag ein paar Stockwerke tiefer. Woran er nicht gedacht hatte: Er war in Erfurt und nicht in Schönhagen. Wegen der durch einige Promille erzeugten Lockerheit beim Fall, blieb es nur bei dem harmlosen Armbruch. Glück hat auf die Dauer eben nur der Tüchtige oder Besoffene!

Kaum hatten sich die Wogen geglättet, auf dem Flur erneutes Gejuchze und Gejohle! Es bot sich in der Tat ein außergewöhnliches Bild. Eine nackte männliche Person versuchte in einen Papiersack (für Altpapier) zu kriechen, was aber nur mit dem Oberkörper gelang. Der Rest glänzte in voller Schönheit. Auch hier gab es eine Erklärung: Der Sportsfreund (dieses Mal ein Springer) spürte- wahrscheinlich aus dem gleichen Grund (Alkohol)- ein dringendes Bedürfnis, wollte dazu auch ordentlich die Toilette benutzen, die sich aber nun mal auch hier am Ende des Ganges befand. Zur weit verbreiteten Gilde der Nacktschläfer gehörend, torkelte er unbekleidet den Flur entlang. Plötzlich kamen ihm einige der dort ansässigen Studentinnen entgegen, die sofort ein mächtiges Geschrei erhoben. Was sie tatsächlich sahen, ob es Schreckens- oder Entzückensschreie waren, man wird es nie erfahren. Ihm kam wohl erst in diesem Moment seine ganze Nacktheit zu Bewusstsein, vielleicht waren es auch Minderwertigkeitskomplexe. Auf jeden Fall unternahm er diesen untauglichen Tarnungsversuch. Dieses Mal waren glücklicherweise mal die anderen die Deppen.

Noch ein Lehrgang in Güstrow und das Jahr 1964 war gelaufen. Nachzutragen bleibt, dass ich bei den Sachsen schon mit dem RL- 3 gesprungen war und nach meiner Rückkehr auf den besseren RL- 3/2 umsteigen konnte, der für die nächsten beiden Jahre mein Sprunggerät wurde. Inzwischen hatte nämlich Seifhennersdorf Schirme entwickelt, die besser waren als der RL-1 des Jahres 1961. Zur Produktionspalette gehörte nun auch das quer liegende Ersatzgerät BE- 3, das die alten PZ und PS vollständig ablöste. Schirme gab es nun auch ausreichend. Es ging also deutlich voran. Manuelle Sprünge wurden natürlich mit dem bewähren Öffnungsautomaten KAP- 3 absolviert (s.o.).

Bemerkenswert an dem RL- 3 war die Reparaturtechnologie. Da die Kappe aus Dederon-Gewebe (sozusagen Ost- Nylon) bestand, war ein Loch kein Problem, ein kleiner Flicken, ein Klecks Duosan (gängiger Alleskleber in der DDR) und in 30 Sekunden war der Schaden behoben. Kalle Hierer aus Halle, ein ganz Wilder, der bei der L-60 während des Fluges auch schon mal an den Fahrwerksstreben auf die linke Seite hangelte und dort den Piloten erschreckte, soll 30 solcher Flickstellen auf seiner Kappe gehabt haben. So sagte man, aber erzählt wird ja viel.

Die Saison 1965 begann mit einem Lehrgang in Neustadt- Glewe (26.- 29.03.). Neben der technischen, hatte sich auch die personelle Situation verbessert. Marianne war zu diesem Zeitpunkt sicher schon OI und damit auch Lehrerin, inzwischen hatten aber auch Kalle und Klaus Helms den Lehrerlehrgang in Schönhagen absolviert (Bild 14 und 15). Mit mir zusammen waren wir also mindestens 4 Lehrer in Neustadt, wo damals als Chef Adolf Daumann, genannt der „Graue Adler“ fungierter, ein legendärer Segelflieger, davor Jagdflieger mit einigen Abschüssen. (Anm.: Wie ich vor einigen Tagen erfuhr, ist Adolf unlängst gestorben, evtl. gerade als ich diese Zeilen schrieb).

PG16

Bild 14: Sprungbetrieb in Neustadt etwa 1965 (genaues Jahr?). Typisch die Ersatzteilkiste und das Fernrohr Modell TSK. Die Gruppe in der Mitte: Links Günter Gatter, daneben Horst Richter (AN- Pilot aus Schönhagen), der Autor in typischer Haltung, Marianne Österreich damals Oberinstrukteuse, Herbert Stern und Kalle.

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Bild 15: Hier eine etwas bessere Aufnahme von Marianne Österreich (hinten).
Sie packt gemeinsam mit Fräulein XX einen RL-3/5. Es windete offenbar, deshalb kam ein fauler Sack als Sandsack zum Einsatz.
Name ist nicht mehr zu ermitteln, da man nur das Hinterteil sieht. Aber schließlich kann man ja nicht jeden Arsch kennen,
zumal wenn er männlich und man selbst hetero ist. Aufnahme aus dem Jahr 1970.

Hier möchte ich nun die Geschichte mit der Gans einfügen, selbst wenn das zeitlich nicht korrekt sein sollte. Hier passt sie aber am besten wegen des Zusammenhangs. Sie (die Geschichte) geht so: Adolf hielt auf dem Platz Gänse und zwar gleich hinter dem Hauptgebäude (Flugleitung/Unterkunft). Die latschten überall rum und schissen alles voll. Das führte irgendwann zu einer Diskussion folgenden Inhalts: Irgendjemand fand es komisch, dass Adolf so ein toller Flieger, seine Hausgänse aber – flugtechnisch gesehen- lahme Krücken wären. Das ließ Adolf als stolzer Kleintierhalter nicht auf seinen Tieren sitzen. Diese Meinungsverschiedenheit war die sachliche Grundlage der folgenden Wette: Die Gans wird in 400 oder 500m „abgesetzt“ man könnte auch sagen rausgeschmissen. Landet sie heil- zahlen die Springer, schafft sie es nicht- Adolf. In diesem Fall würde die Gans gemeinsam verspeist werden. Es ging sicher um den üblichen Kasten Bier. Die L- 60 startete. Über dem Platz wurde die Gans „abgesetzt“ und segelte in großen Spiralen absolut souverän der Erde entgegen. Adolf grinste beifällig, den Sieg schon vor Augen. Aber abgerechnet wird bekanntlich am Schluss. War es nun ein schadhafter Höhenmesser oder nur eine falsche Schätzung, egal. In vielleicht 50m legte die Gans die Flünken an und bald darauf zog lieblicher Bratenduft durch die Küchenbaracke. (Anm.: Diese Geschichte darf ich zu Hause deshalb nicht erzählen, weil meine 2.Frau Elke ausgesprochen tierlieb ist. Wären Adolf oder dessen Wettgegner abgeschmiert, würde sie das bestenfalls mit einem trockenen „selbst schuld“ kommentieren, aber so musste ich einen längeren Vortrag über den Umgang mit Tieren über mich ergehen lassen. Aber wo sie recht hat, hat sie recht. Kommt nicht wieder vor!)

1964/65/66 war es auch, als es in Neustadt eine besonders starke Springertruppe gab, Anführer war Rudi Warmbier (guter Turner), daneben Helmut Pieske (etwa 1980 aus „kaderpolitischen Gründen“ ausgeschieden worden), Klaus Ollenschläger (voriges Jahr bei der Erstauflage des Treffens schon dabei) und schließlich Kurt „Kuddel“ Abramowski nebst seinem heute angetrauten Weib Rosita. Günter Gatter, den langjährigen Fallschirmwart und Wolfgang (Butschi) Lachner hätte ich fast vergessen. Entschuldigung, denn vor allem Gatterich war in nächsten Jahren eine der tragenden Säulen der Springerei (s. Bild 16).

Eine ähnliche Truppe gab es auch im Osten im Raum Anklam/ Pasewalk. Hier waren es z. B. Paule Trautner (Lehrer), Klaus Helms (Lehrer), Bruno Drabatzky und Klaus Weigelt (später auch Lehrer). Diese starke Truppe war wohl auch der Grund, dass im Juni/ Juli ein Lehrgang mit L- 60 in Pasewalk stattfand, laut meinem Sprungbuch mit Gastspringern aus Magdeburg (u. a. Heinz Wolf und Jürgen Bakalorz). Die L- 60 flog damals Egon Vohs, vor kurzem noch in Purkshof als Motorflieger aktiv.

Bild 15: Zwei Jungspunde. Günter Gatter (l.) und Helmut Pieske bei einem ihrer ersten Sprünge, wohl 1965.
Günter war dann fast 20 Jahre hauptamtlicher Fallschirmwart und wechselte dann zu den Mechanikern.
Sein Nachfolger war Frank „Schoko“ Gaevert.

Mit Egon hatten wir mal ein nettes Erlebnis: Es war ein schöner, sonniger Tag und Kalle. Helmut Pieske und ich wollten (oder sollten) aus 3000m springen, für die L-60 mit ihrem mickrigen Motörchen und deshalb schwachem Steigen schon eine echte Herausforderung. Pilot war eben Egon. Der flog stur das Dreieck Neustadt- Grabow- Lulu- Neustadt – Grabow- Lulu usw… Langsam gewannen wir Höhe. Auf 2500m- wir waren gerade über dem Übungsgelände der Iwans vor Grabow- machte es plötzlich „Blupp“ und die Latte stand (gemeint ist natürlich die Luftschraube). Schweigen, nur das Rauschen des Fahrwinds in den Streben. Egon sagt nichts, wir sagen nichts und rauschten weiter. Dann wurde es Kalle auf dem Vordersitz zu bunt: „Was ist Egon, sollen wir springen“? Egon sah auf den Höhenmesser der beruhigende 2400m zeigte und sagte: „Wartet mal noch“, kontrollierte, schaltete auf einen anderen Tank um, startete und weiter ging’s. Da war es nichts mit der schönen Außenlandung bei den Iwans.

Höhepunkt des Jahres waren aber die 2. DDR- Meisterschaften in Karl- Marx- Stadt. Für mich besonders deshalb, weil ich in der Disziplin „Kombinierter Zielsprung“ aus 1000m einen für mich guten Platz im vorderen Mittelfeld belegte (Platz 24 oder 27 von vielleicht insgesamt 80), sogar einige der 2. Mannschaft von Dynamo waren hinter mir! Wer aus Neustadt noch mit war, weiß ich wirklich nicht mehr, vielleicht schafft da der 29. Klarheit (Anm.: Zwischenzeitliche Recherchen ergaben, dass es Klaus Helms und Herbert Stern waren). Es gab aber bei diesen denkwürdigen Meisterschaften offensichtlich noch viele Höhepunkte anderer Art, denn am Schluss war die ganze Frauen- Nationalmannschaft schwanger, was zu einem ungewöhnlichen Hochzeits- und Babyboom führte: Wie schon erwähnt, heiratete Elli Reimer den Werner Winzer, der lange Weber die Maria und Erika Czebulla den Greschner von Dynamo usw. Die anderen Paarungen kriege ich nicht mehr zusammen.

Für mich hatte sich 1965 einiges ergeben, was nicht ohne Auswirkungen auf meine springerische Tätigkeit blieb. Seit Sommer war ich mit meinem Studium fertig und arbeitete seit August beim damaligen VEB Geophysik Leipzig und zwar bei einem reflexionsseismischen Messtrupp, der zu jener Zeit auf der Insel Rügen und in den nächsten Jahren den Norden der DDR nach vermuteten Erdöllagerstätten abgraste. Damit war ich nicht mehr Herr meiner Zeit wie als Student, sondern brauchte eine Freistellung, was aus dienstlichen Gründen oft nicht klappte.

Vom 1. bis zum 8. Juni- man schreibt schon das Jahr 1966- waren wir mit der Neustädter Truppe in Magdeburg. Das war ein traumhafter Lehrgang, jeden Tag Sprungwetter, keine Flugsperre. Mein Sprungbuch weist für diese Zeit immerhin 25 Sprünge aus. Nicht schlecht! Ich erinnere mich daran, dass ich mit Rudi Warmbier und Klaus Helms in einem Zelt lag. Die beiden- damals schon Ehemänner- gingen mir nämlich mit ihrem dauernden Palaver über Ehe, Frau und Kinder ziemlich auf den Wecker. Ich hatte zwar eine feste Freundin, war aber noch ledig und hatte für solche Dinge kein Ohr. Aber erst mal zurück zum Springerischen. Glanzpunkt des Lehrgangs war ein Sprung aus 4000m, mit der Anna doch eine Zeit und Sprit raubendes, deshalb zu GST- Zeiten auch seltenes Vergnügen. Ach ja, da war dann noch der Geländesprung in Burg. Irgendwer kam auf die Idee, man könnte doch mal die Burger Segelflieger überfallen, schließlich wären wir ja Mitglieder einer Organisation für vormilitärische Ausbildung und da macht man so was. Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, ging es los. Wir landeten außerhalb des Platzes auf einer angrenzenden Heidefläche, schlichen uns an die Baracke und stürmten mit Gebrüll hinein. Die Reaktion war ziemlich abweisend und ernüchternd: Die blöden Segelflieger drehen sich einfach auf die andere Seite und fragten, ob wir noch alle Tassen im Schrank hätten. Für einen unserer Springer wurde es aber ein aufregender Tag. Ein Anfänger, des Steuerns noch etwas unkundig, landete im angrenzenden Objekt der Iwans. Da man dort Raketen oder andere allergeheimsten Geheimnisse verwahrte, war der Empfang entsprechend herzlich. Es dauerte Stunden bis wir den Unglücksraben dort wieder raus bekamen. (Dass es sich dabei um den späteren OI Magdeburg „Tünnes“ Scheel handelte, bleibt natürlich unter uns). Damals flog in Magdeburg Wilhelm Lienemann, eine absolute Kapazität, was die Fliegerei betraf. Zwar hatte er hatte er aus dem Krieg ein Holzbein mitgebracht, was ihn aber nicht daran hinderte, knüppelhart Fußball zu spielen. Von ihm wird später im Zusammenhang mit Anklam 1968 noch die Rede sein.

Als ich aus Magdeburg nach Hause kam und meine Freundin besuchte, winkte sie mich mit geheimnisvoller Miene raus und macht mir klar, dass es eindeutige Anzeichen für meine bevorstehende Vaterschaft gäbe. Inzwischen bin ich nun schon Opa von zwei heiß geliebten Enkeln, einem schon ziemlich großen und einem noch ziemlich kleinen.

Im Sommer 1966 fanden in Leipzig die Weltmeisterschaften im Fallschirmspringen statt. Diese wurden mit großem Aufwand perfekt organisiert, schließlich ging es darum, über internationale sportliche Erfolge die diplomatische Anerkennung der DDR voranzutreiben. Als Günter Gebhardt das Zielspringen gewann, war natürlich die Freude der Oberen groß. Auch wir kleinen Lichter freuten uns, denn so ein Erfolg konnte natürlich auch bessere Bedingungen für die Basis bedeuten.

Während des anschließenden Lehrgangs in Güstrow im Juni/ Juli mag es dann gewesen sein, als Kalle eine seiner zahlreichen Glanznummern im wahrsten Sinne aus Parkett legte. Nach dem Sprungbetrieb fuhren wir (Besatzung und Lehrer) in die Stadt, um im Hotel „Stadt Güstrow“ (Eckhaus am Markt, existiert immer noch) etwas Vernünftiges zu essen. Das Restaurant lag im Erdgeschoß, war aber auch gleichzeitig Tanzbar, was man unschwer an der Tanzfläche inmitten des Raumes erkennen konnte. Wir hatten bestellt und warteten auf das Essen, das doch sehr auf sich warten ließ. Auf der anderen Seite saß ein älteres Herrchen mit Schlips und Jackett, wahrscheinlich ein Dienstreisender, vor einer gemischten Aufschnittplatte beträchtlicher Größe. Plötzlich stand Kalle auf, überquerte die Tanzfläche, baute sich vor dem bewussten Herrchen auf. Mit der Feststellung: „Das essen Sie doch nicht mehr!“ raffte er mit einer schnellen Handbewegung- mittels einer während der Frage/Feststellung ergriffenen Gabel- den verbliebenen Aufschnitt von der Platte. Unter ehrfürchtigem Schweigen der anderen Gäste kam er mit seiner Beute zurück an den Tisch, wo er sie (nämlich die Beute) großzügig verteilte. Der Bestohlene- es handelte sich im strafrechtlichen Sinne aber ohne Zweifel um Mundraub- saß da mit offenem Mund, zur Salzsäule erstarrt. So was war ihm noch nie passiert, aber schließlich trifft man auch nicht jeden Tag auf Fallschirmspringer, vor allem nicht auf Kalle.

Da wir gerade bei Kalle sind: Um diese Zeit sprang auch sein jüngerer Bruder Peter. Der machte Lizenz, hörte nach einigen Jahren aber aus heute unbekannten Gründen auf.

Vor dem Oktoberlehrgang in Neustadt gab es noch eine vorgezogene Weihnachtüberraschung. Wir bekamen die ersten RL- 3/5 (s. Bild 16). Das war für damalige Zeit ein tolles Gerät, mit dem ich bis 1973 mehr als 200 Sprünge machte, ziemlich leistungsfähig und extrem leicht und schnell zu packen, die ganze Sache war in weniger als 10 Minuten erledigt: Vorn und hinten einen Pieker rein, alle Bahnen auf eine Seite geschlagen, Verzögerungssack drüber, eingeschlauft und fertig war die Laube. Die Öffnung dauerte dafür ewig, war deshalb auch extrem sanft. Mit dem 3/5 ging die Ära der Naturseidenschirme zu Ende. wobei er noch bis Ende1973 bei uns in Neustadt gesprungen wurde unter anderem auch von mir. Was folgte war erst mal der RL- 5 oder 5/1 (bereits aus beschichtetem Kunststoffgewebe), allerdings ein förmlicher Knochenbrecher. Ich sehe heute noch einige von den Magdeburgern mit stark schaukelndem Schirm in die Lichtung Richtung Lederwerk einschlagen. Das konnte man deshalb so gut sehen, weil der Startaufbau zum damaligen Zeitpunkt in der SW- Ecke des Platzes war; der alte Sandkasten ist evtl. noch zu erkennen. Der RL- 5 war also weniger ein Sportgerät als vielmehr ein wirksames Mittel zur Erhöhung des Krankenstandes. Aber vielleicht kam der auch erst einige Jahre später.

Bild 16: RL-3/5 im Zielanflug. Ich bin den für damalige Verhältnisse sehr guten Schirm von 1966 bis Ende 1973 gesprungen.
Die Aufnahme stammt auch aus dem Jahr 1970, der Springer ist nicht zu identifizieren.

Neben Lehrgängen in Anklam (Juni) und Neustadt- Glewe (August und September), alle mit L- 60, gab es im Oktober 67 die 3. DDR- Meisterschaften in Schönhagen, in beiderlei Hinsicht nicht so erfolgreich wie zwei Jahre zuvor. Ich war sauer, weil ich beim Gruppenzielsprung einmal außerhalb des 10m- Kreises landete und deshalb mit 0 Punkten abziehen musste. Schuld war in meiner Erinnerung die Hektik. Wir kamen zu spät aus Luckenwalde von einem blöden Ausflug, schafften die Maschine im letzten Moment und gingen einfach zu spät raus und das war’s. Insgesamt landeten wir im hintersten Mittelfeld. Die anderen beiden Teilnehmer aus Neustadt waren Klaus Helms und Rudi Warmbier, bei letzterem bin ich aber nicht ganz sicher. Wer sollte es aber sonst gewesen sein? Was den Nachwuchs betraf, war man dieses Mal weniger fruchtbar (s.o.). Wahrscheinlich hatte man bei den Frauen im Vorfeld auch Verhütung trainiert und außerdem gab es seit 1966 in der DDR schon die Pille.

Aus Anlass der Meisterschaft war übrigens der RL- 6, der erste Rechteckgleiter vorgeführt worden. Allerdings noch kein Stauluftgleiter wie heutzutage, sondern einfach eine rechteckige, gewölbte Fläche. Der flache Gleitwinkel war für den damaligen Geschmack wirklich erstaunlich. Testspringer waren nach meiner Erinnerung der Franz Täubrecht und der lange Gebhardt, beide Dynamo, die aber mit Wind anflogen und deshalb richtig mit Feuer auf dem kleinen Kienberg einschlugen.

Allerdings kam es während des Wettkampfs ein „Vorkommnis“ mit einer Antonow, was bei deren sprichwörtlicher Zuverlässigkeit ein- im wahrsten Sinne des Wortes- einmaliges Ereignis war: Die Sache spielte sich in Platznähe ab, so dass die Wettkampfteilnehmer Augen- und auch Ohrenzeugen wurden. Um bei dem „Vorkommnis“ zu bleiben: Eine der drei oder vier im Einsatz befindlichen Annas, am Steuer saß der dicke Prodolski aus Schönhagen, befand sich im Steigflug südlich des Platzes, als das typische Brummen des AN- Triebwerks plötzlich in ein schrilles Kreischen überging. Nach einigen Sekunden kamen die Springer heraus gepurzelt und die Maschine verschwand irgendwo hinter dem Monte Kien (s. o.). Nach einer guten halben Stunde kam Prodolski mit dem Mixer per Anhalter zurück (evtl. hatte man sie auch abgeholt) und berichtete, dass er in den Wiesen Richtung Trebbin mit abgestelltem Triebwerk notgelandet wäre. Die Maschine sei unbeschädigt, sitze aber in der weichen Wiese fest. Allerdings wäre eine/die Hydraulikleitung zur Verstellung der Luftschraube gebrochen, so dass sich diese auf neutral gestellt hätte und das Triebwerk durchgegangen wäre (was den Krach erklärte). Flugs wurde ein Reparatur- und Bergungskommando zusammengestellt, das sich per LKW in Marsch setzte. Die defekte Leitung wurde vor Ort gewechselt, die Maschine auf mitgebrachten Brettern aufs Trockene geschoben, ein Koppelzaum ungelegt und schon war die gute alte Anna wieder in der Luft.

1967 war also ein eher durchschnittliches Jahr, eher arm an Ereignissen. Deshalb schiebe ich hier zwei Storys ein, deren tatsächliches Stattfinden ich zeitlich nicht mehr einordnen kann, die aber eigentlich auch zeitlos sind. Sie illustrieren, mit was für Schwachköpfen man sich auch schon damals herumschlagen musste.

Nr. 1: Anlässlich einer der zahlreichen Flugsperren oder Schlechtwetterperioden kam man auf folgenden Zeitvertreib: Mittels einer Rückholwinde der Segelflieger (so einem Ding mit kleinem Benziner und einem langen, dünnen Seil zum Zurückholen des Schleppseils an den Start, wird heutzutage meist durch klapprigen Pkw erledigt) und einer Krankentrage mit großen Rädern wurde ein „Viererbob“ gemacht. Die Winde stand an dem einen Ende des Platzes, das Seil wurde abgerollt, die Trage drangehängt, vier Mann drauf und Gas. Die Fuhre flitzte mit einem Affenzahn durch die Gegend. Da das Gras ziemlich hoch war, sah man nur die vier Köpfe über den Platz jagen. Wegen der zahlreichen Diestel sah der vorn Sitzende hinterher aus wie ein Stachelschwein. Deshalb wurde nach jeder Tour gewechselt.

Nr. 2: Dass die Lehrer auch nicht besser waren, belegt folgende Episode: In jenem Jahr war das mit den Wildschweinen ziemlich schlimm. Sie zerwühlten den Platz so sehr, dass die Motorflieger mit ihren leichten Kisten richtige Bocksprünge machten. Die Fallschirmspringer waren die Richtigen um das Problem zu lösen, zumal sie in ihren Reihen mit Kalle den größten Wildschützen nördlich des 38. Breitengrades hatten. Die entsprechende Bewaffnung in Form der Leuchtpistolen war gleichfalls vorhanden. Diese wurden zu Vorderladern umfunktioniert, indem vor die Leuchtpatronen Bleikugeln, Muttern und andere Kleinteile kamen. So gerüstet wurde die Abenddämmerung erwartet. Als es soweit war, starteten die beiden Phänos (alte 2,5 t- LKW). Besetzt mit jeweils 4 oder 5 Mann ging es in Richtung altem Tontaubenschießstand, wo die Schweine in der Nacht zuvor besonders aktiv gewesen waren. Und da waren sie wieder, die Übeltäter, also hinterher. Aber obwohl wir 60 fuhren, kamen wir nur langsam näher. Kurz vor dem Waldrand waren wir fast auf Schussweite heran; also eine volle Salve, aber ohne jede erkennbare Wirkung. Nun ging es in Richtung Brenzer Kanal, wo wir eine weitere Rotte aufstöberten. Inzwischen war es ziemlich nebelig geworden, die Sichtweite lag unter 50m. Nur eine Vollbremsung verhinderte den Sturz in den Kanal. Ufff! Plötzlich ein Feuerschein! Die Leuchtkugeln der ersten Attacke hatten das Unterholz entzündet. Aber mit vereinten Kräften war das Problem zum Glück bald gelöst. Einigkeit macht eben stark.

Ganz anders begann 1968. Gerne würde ich dieses Jahr unterschlagen, um das damals Geschehene ungeschehen zu machen, aber es ist die traurige Pflicht des Berichterstatters auch über tragische Ereignisse zu berichten, die leider ebenso zu unserem Sport gehören. Ich will nun versuchen, den Ablauf des Geschehens an jenem 30. Mai in Anklam aus meiner Sicht wiederzugeben.

Auch dieses Mal kam ich, aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen, wieder mal zu spät. Auf jeden Fall war der Sprungbetrieb schon im Gange. Paul Trautner war Sprung- und Lehrgangsleiter, 2. Lehrer Klaus Helms. Gesprungen wurde aus der L- 60, die von Karl Rietz aus Anklam geflogen wurde. Ich war an diesem Tag sozusagen nur einfacher Springer, da ich in dem Moment keine gültige Lehrerlizenz hatte, meine war gerade zur Verlängerung in Neuenhagen. Es sollten erst mal noch zwei Starts gemacht werden. Dann war eine längere Pause geplant, weil Karl seinen kranken (oder behinderten?) Sohn aus einem Heim in der Nähe abholen musste. Den nächsten Start sollte Klaus absetzen, den übernächsten dann ich.

(Anm.: Auf Grund eines Vorkommnisses aus dem Vorjahr, über das später noch berichtet wird, musste auch in der L- 60 ein Lehrer/Absetzer mit dabei sein)

Klaus startete also mit seinen beiden Schülern, Absetzhöhe wahrscheinlich 1000m. Einer von den beiden hatte am Boden zwar das große Maul, war bei seinen ersten beiden Sprüngen aber ziemlich flatterig gewesen, wahrscheinlich hatte er einfach Schiss. Anfangs lief alles normal. Der erste Springer kam, der Schirm ging auf. In Ordnung! Da plötzlich beim zweiten Anflug kam ein Schirm raus und fegte in das Höhenleitwerk. Innerhalb einer Sekunde wurde aus der Normalität der Notstand, nach einigen weiteren Sekunden die Katastrophe. Sofort ging die Maschine auf den Kopf, das Triebwerk heulte auf und die L- 60 raste mit ständig wachsender Geschwindigkeit der Erde entgegen. Plötzlich bogen sich die Tragflächen nach oben und klappten an den Rumpf. Da- schon in Bodennähe- löste sich ein Körper von der Maschine, bevor er und die Maschine hinter den Bäumen verschwand, blitzte noch etwas weiß auf. Dann ein dumpfer Aufschlag, danach Stille- Totenstille. Das Ganze hatte keine 30 Sekunden gedauert.

Unsere Erstarrung dauerte ebenfalls nur Sekunden, dann sprangen wir in Pauls Wagen und rasten zur Absturzstelle, die etwa 1km nördlich des Platzes auf einem Acker liegen musste. Dort erwartete uns erst mal eine gute Nachricht. Klaus kam uns heil und unversehrt entgegen. Einen Schock- wie heute obligatorisch- hatte er nicht, war also im wörtlichen Sinne „unerschrocken“, zeigte nur mit einer traurigen Geste in Richtung des Wracks. Was wir dort sahen war wirklich schrecklich. Die Maschine war mit 300 vielleicht auch 400 km/h unangespitzt eingeschlagen, erstaunlicherweise aber nicht in Brand geraten. Erlasst mir bitte die Beschreibung, wie die Insassen aussahen bzw. das was von ihnen übrig war. Fast noch schrecklicher war aber, dass Karls Frau mit dem Fahrrad über den Acker angestrampelt kam. Sie wusste natürlich um welche Maschine es sich handelte und wer sie geflogen hatte. Zum Glück konnten Paul und Bruno Drabatzky sie noch vor dem Wrack abfangen. Endlich brach sie zusammen und ließ sich willenlos wegführen.

Für die Ereignisse in der Maschine gibt es nur einen Zeugen- Klaus Helms. Dessen Bericht gebe ich nach bestem Wissen und Gewissen wieder, wohl wissend, dass er das viel besser könnte.

Hier nun der Bericht: Als Klaus den (2.) Springer (Namen vergessen) zum Fertigmachen aufforderte, saß dieser ziemlich blass in seiner Ecke. Plötzlich schoss sein Ersatzgerät raus, mit den bekannten Folgen. Klaus versuchte ihn aus der Maschine zu bugsieren, was ihm aber nicht gelang. Er stieg über ihn hinweg auf den Tritt und versuchte mit dem Kappmesser die Gurtenden zu durchtrennen. Ob er in Bodennähe gesprungen ist oder der Fahrtwind ihn einfach weggerissen hatte, konnte er hinterher nicht mehr sagen. Als er den Boden ganz, ganz dicht vor sich sah, öffnete er das Ersatzgerät, nicht den länger öffnenden Sprungschirm. Das rettete ihm das Leben. Die Öffnungshöhe lag sicher weit unter 50m, vielleicht waren es auch nur 20 oder 10m. Bevor seine Füße den Boden berührten, war der Schirm auf jeden Fall offen. Mit dem RL hätte das nicht mehr geklappt. Durch sein, heute sagt man „cooles“ Handeln hatte er seinem Schutzengel viel Arbeit abgenommen.

Karl Rietz merkte wohl sofort, dass nichts mehr zu retten war (was das Flugzeug betraf). Er warf seine Tür ab und schrie: „Springt, springt!“, sprang selbst aber nicht. Dann war es für ihn zu spät.

(Anm.: Klaus hat mir vor kurzem bestätigt, dass meine Schilderung weitgehend dem tatsächlichen Ablauf entspricht.)

Held ist ein großes Wort. Ich gebrauche es hier aber ganz bewusst. Am Anfang hätte er die Chance gehabt, sich zu retten. Was ihn davon abhielt, wird man nie erfahren. Dass er in den letzten Sekunden nicht mehr springen konnte, schmälert seine Tat nicht. Helden kommen eben nicht nur aus Hollywood, die richtigen auch mal aus Anklam, was man auch an Otto Lilienthal sieht. Ich glaube, dass Karl schon mal eine Gedenkminute wert ist.

Was folgte, waren endlose Untersuchungen sowohl durch die Staatliche Luftfahrtinspektion als auch durch die Mordkommission, wie bei Unfällen mit Todesfolge üblich. Die waren aber auch irgendwann vorbei. Gesprungen wurde natürlich nicht mehr. Aber womit auch, es war ja kein Flugzeug mehr da. Die Lizenzen von Paul und Klaus hatte man gleich einkassiert. Die restlichen L- 60 wurden für den Absetzbetrieb erst mal gesperrt.

Für mich ging die Sache lt. Sprungbuch im Herbst weiter. Danach machten wir u. a. am 19.10. einen so genannten Geländesprung in Pinnow. Nach Neustadt ging es dann per Fußmarsch zurück, quer durch die Lewitz über Friedrichsmoor, bis zum Platz mal locker 30 km. Es war schon dunkel, als wir auf der dichten Eichenallee in Richtung Friedrichsmoor marschierten. Plötzlich lautes Geschepper und Gefluche. Ein „unbeleuchteter“ Radfahrer war in der Dunkelheit auf den letzten Mann unserer Gruppe aufgefahren. Die anderen Gruppen versuchten durch Betrug vor uns zu Hause zu sein. Aber weder per Anhalter noch per Bahn waren sie schneller. Ich erinnere mich deshalb (wegen des Marsches) noch daran, dass in dem Jahr der Anfängerlehrgang besonders gut war, überdurchschnittlich viele überdurchschnittlich flinke, pfiffige Burschen. Namen fallen mir allerdings nicht mehr ein. Kann es sein, dass Henne einer von denen war? Das Jahr schloss für mich mit mageren 15 Sprüngen. An den Unterschriften in meinem Buch sehe ich, dass wir Gäste aus Berlin hatten. Es haben sich nämlich W. Fiedler und Hauck verewigt. Später waren auch Eva Reuter, eine Kinderärztin aus der Berliner Umgebung sowie Peter und Inge Langenhahn aus Pritzwalk dabei.

In diese Zeit- es müsste etwa 1967/68 gewesen sein- fiel auch die häufige Anwesenheit anderer Gäste. Aus irgendwelchen Gründen sprang damals eine Truppe der Staatsicherheit aus Schwerin bei uns mit. Da die Jungs natürlich in ganz geheimer Mission bei uns waren, nenne ich nur ein paar Vornamen. Artur oder Alfred xxx, Peter xxx, Henry xxx u. a.. Die hatten teilweise sogar ihre Dienstwaffen dabei. So haben wir einmal mit einer tschechischen Mini- MP der Marke Skorpion auf dem Schießstand in Güstrow (am sog. Franzosenberg) herumgeballert.

Im Winter folgte dann das juristische Nachspiel der Katastrophe von Anklam vor dem Bezirksgericht in Neubrandenburg. Die nach Meinung der Staatsanwaltschaft Verantwortlichen (Paul und Klaus) wurden angeklagt, die Anklage lautete auf „Gefährdung des Luftverkehrs mit Todesfolge“ oder so ähnlich. Ich war aus dem o. g. Grund nur Zeuge, sah mich aber eigentlich im Geiste auch auf der Anklagebank. Meine Aussage deckt sich natürlich mit dem, was ich oben geschildert habe. Es gab keinen Grund, etwas zu verschweigen oder zu beschönigen.

Um die Sache überhaupt verstehen zu können, muss man kurz in das Jahr 67 zurückgehen. Damals hatte es in Leipzig bereits einen ähnlichen Unfall gegeben: Einem Springer war in der L- 60 ebenfalls der Schirm (Ersatzgerät?) aufgegangen, worauf die Maschine abschmierte. Der Pilot und der oder die Springer kamen aber noch raus, so dass es bei dem Totalschaden des Fluggerätes blieb. Da man als Ursache den seitlich angebrachten Griff des BE- 3 ausgemacht hatte, gab es eine Weisung des ZV, dass aus der L- 60 nur mit Ersatzgeräten gesprungen werden durfte, deren Öffnungsgriffe noch oben verlegt worden waren. Ob Marianne diese Weisung nicht kannte oder welche Gründe es sonst noch gab, auf jeden Fall hatten die Ersatzgeräte die zu Lehrgangsbeginn aus Neustadt kamen, den Griff nach wie vor an der Seite. Eigentlich hätte man also nicht springen dürfen. Vor die Frage gestellt, den Lehrgang ausfallen zu lassen oder das zu ignorieren, hatten Paul und Klaus sich für Letzteres entschieden. (Hätte ich auch gemacht, da bin ich ganz ehrlich).

Die Untersuchung des Unfalls in Leipzig hatte übrigens mit einem Eklat geendet. Mitglied evtl. sogar Leiter der Untersuchungskommission war der schon weiter oben erwähnte Wilhelm Lienemann, der – wie auch schon erwähnt- im DDR- Motorflug auf Grund seiner Flugerfahrung eine große Nummer war. Allerdings war er auch ein wenig polterig und in seiner Ausdrucksweise manchmal nicht gerade sensibel. Er vertrat wohl als Einziger die Meinung, dass die L- 60 wegen zu schwacher Motorleistung für den Absetzbetrieb von vornherein ungeeignet sei und deshalb für diesen Zweck aus dem Verkehr gezogen werden müsse. Als er mit seiner Meinung nicht durchdrang, soll er seinen Sachverständigenausweis hingeknallt und unter Grollen den Raum verlassen haben. Der Vorfall von Anklam bestätigte ihn leider auf makabre Weise.

Aber zurück zum Prozess: Der Staatsanwalt überließ die fachliche Begründung seines Antrags seinem Hauptzeugen, einem Vertreter der damaligen Untersuchungskommission. Der führte klar und verständlich aus, wie es aus seiner Sicht zu dem Malheur gekommen war: Wegen des nicht umgebauten Ersatzgerätes blieb der Schüler beim Umsteigen mit dem Griff in der Ecke irgendwie hängen und das Ersatzgerät öffnete sich. Die Folgen seien ja bekannt. Die Angeklagten hätten sich durch das Ignorieren der Weisung schuldig gemacht und müssten dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Das sah ganz schlecht aus für die beiden.

Nun muss man aber wissen, dass Paul vor Gericht schon Erfahrung hatte. Er war ein oder zwei Jahre zuvor in einen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang verwickelt und deshalb vor dem Kadi gelandet. Ein außergewöhnlich cleverer Anwalt für Verkehrsrecht aus Berlin hatte damals seine Unschuld bewiesen. Den hatte Paul auch dieses Mal engagiert. Es war wie in einem englischen Kriminalfilm: Der Verteidiger, groß, schlank, seriös in einem Tweed- Jackett mit Schlips und Bilderbogen, dagegen der Staatsanwalt ein kleiner, gnurpeliger Mensch vom Typ „Gartenzwerg“ im speckigen dunklen Anzug. Dass der Anwalt wirklich clever war, bewies er sofort, indem er gleich sein As aus dem Ärmel zog. Er rief seinen Zeugen auf, den er bisher sogar vor seinen Klienten geheim gehalten hatte. Wer das war? Dreimal dürft Ihr raten. Es war- Wilhelm Lienemann (s. o.). Der von der Havariekommission zog die Rübe ein, war plötzlich ganz klein. Wilhelm legte auch gleich los und nahm den Zeugen des Staatsanwaltes nach allen Regeln der Kunst auseinander und bewies mit ebenso einfachen und klaren Worten, dass die damalige Kommission eine Ansammlung von Deppen war, die von der Fliegerei aber auch nicht ein Fünkchen Ahnung hatten. Innerhalb von wenigen Minuten wendete sich das Blatt. Am Schluss konnte der Staatsanwalt nebst Zeugen froh sein, nicht sofort selbst eingelocht zu werden. Im Laufe der Untersuchungen hatte man übrigens auch noch mal versucht, die Theorie der Anklage durch eine Rekonstruktion zu untermauern. Dazu setzte man einen Springer (Bruno Drabatzki?) mit einem Original- BE (also Griff seitwärts) in die Maschine mit der Aufforderung zu versuchen, ohne Einsatz der Hände irgendwie den Griff aufzuziehen. Obwohl er lange in der Ecke herumwirtschaftete, gelang das aber nicht.

Was dann folgte war ein Freispruch. Begründung: Die damalige Weisung war Blödsinn und nicht geeignet, den erneuten Vorfall zu verhindern. Der Verstoß gegen eine unsinnige Weisung ist nicht strafbar, im Zweifel für den Angeklagten usw. Noch ein interessantes Detail und ein weiterer Beweis dafür, welche Zufälle es im Leben so gibt. Der Sohn des vorsitzenden Richters war auch Sprungschüler, damals in Anklam dabei und der beste Kumpel des Verunglückten.

Trotz des strafrechtlichen Freispruchs wurden Paule (inzwischen verstorben) und Klaus ihre Fleppen los. Beide hörten mit der Springerei auf. Schade! Unbeantwortet ist nach wie vor die Frage was wirklich geschehen ist und wird es wohl auch immer bleiben. Die einzige Erklärung sieht am Schluss so aus, dass der Springer aus Nervosität oder Schiss selbst an dem Griff gezogen hat, mit verheerenden Folgen für sich und leider auch für Karl Rietz. Was für mich blieb, ist die Erinnerung an einen schlimmen Tag, anfangs auch mal die Frage nach meinen evtl. Aktien an dieser Sache.

Die L-60 ist nach dem 30.05.1968 nicht mehr als Absetzmaschine eingesetzt worden. Gesprungen wurde von nun an nur noch aus der Antonow, deren Bestand sich etwa um diese Zeit um einige Maschinen nun aus polnischer Lizenzproduktion vergrößerte. Die Nordbezirke (Neustadt) bekamen z. B. eine gemeinsame Maschine mit Magdeburg. Geflogen wurde sie von Wilhelm Lienemann, später auch Erich Deumeland, Mechaniker war damals Christian Gelfert, später selbst langjähriger und exzellenter AN- Pilot. Das Ding irgendwie durch die Luft bewegen ist die nämlich eine, die Springer richtig absetzen eine andere Sache, was zahlreiche Außenlandungen gelegentlich (auch heute noch) zeigen.

Neben den Profis Deumeland und Gelfert gab es in Neustadt noch zwei, weitere allerdings ehrenamtliche Piloteure für die Anna: Jürgen Böhnert aus Rostock und Klaus Rieger, der aus Frankfurt (natürlich O) stammte und im Hauptberuf Offizier in dem dortigen Raketen- Reparaturwerk der NVA war. Leider fand er den Fliegertod, als er mit einer Z-42 und einem Flugschüler bei Blievensdorf oder so auf den Technikstützpunkt der LPG knallte. Jürgen Böhnert hatte, was die Fliegerei betraf eine außergewöhnliche Vorgeschichte, denn er studierte um 1960 „Wissenschaftliches Fliegen“ an der TU damals evtl. noch TH Dresden, d. h. er wollte Testpilot werden und hatte in Dresden auch das Fliegen gelernt. Das gab es wirklich!

(Anm.: Etwa 1955 hatte man in der DDR nämlich begonnen, eine eigene Flugzeugindustrie aus dem Boden zu stampfen und das erste deutsche strahlgetriebene (und eines der ersten überhaupt) Passagierflugzeug die BB 152 zu konstruieren, zu bauen und in die Luft zu bringen. Dann kam der 4. März 1959, an dem die Maschine bei ihrem 2. Testflug kurz vor Dresden- Klotzsche im Landeanflug auf den Acker knallte. Das war wohl ein aber nicht der Hauptgrund dafür, dass das Politbüro im Sommer des Folgejahres beschloss, die gesamte Flugzeugindustrie einzustampfen. Das ging damals mal wieder „ritsch- ratsch“, wie schon der Genosse Kossonsow in der „Kuh im Propeller“ sagte (s.o.). Für die Flugzeugbau- Studenten war dann natürlich auch Schluss, die mussten auf andere Fachrichtungen umschulen. So ging das damals.)

Rund 20 Jahre später drohte dem Flugsport in der DDR ein ähnliches Schicksal. Davon wird in zweiten Teil noch die Rede sein.

Für das Jahr 1969 finde ich in meinem Sprungbuch Eintragungen zu 3 Lehrgängen (Mai/ Neustadt, August/Anklam, September/ Neustadt). Das wird aber nicht alles gewesen sein. Dadurch, dass ich im Außendienst tätig und meine Familie nur an den Wochenenden sah, gab es – neben den problematischen Freistellungen- natürlich auch zu Hause das eine und andere Problem. So war ich sicher nicht immer dabei, wenn gesprungen wurde. Hier müsste als Zeitzeuge evtl. Kalle einspringen. Ob es schon 1969 war, als Marianne für ein Jahr zur Parteischule musste, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. War es so, dann kam schon in diesem Jahr Hannes Stübner aus Magdeburg, der sie in dieser Zeit vertreten sollte. Es kann aber auch sein, dass die Sache mit der Mariannes Parteischule und der Vertretung durch Hannes erst 1970 war.

Das ist das Ende meines Berichtes. Die Zeit bis zur Wende ist nun Kuddels Part.

Eine Geschichte muss ich aber noch loswerden, die zwar in Kuddels Berichtszeitraum fällt, die ich aber hier unbedingt anbringen möchte, da ich bei dieser Gelegenheit den wohl schönsten Moment meiner Springerlaufbahn erleben durfte. Aber genug der Vorrede.

Im August 1975 war Großflugtag der GST in Magdeburg. Da wurde alles zusammengetrommelt, was fliegen und springen konnte. Ich will hier nicht über den ganzen Flugtag berichten, auch über nicht die Story mit dem Rauchkörper, den einer von den blöden Magdeburger über der Stadt in der Antonow zündete, sondern nur über eine Episode, die sich eigentlich am Rand abspielte, vor etwa 10 bis 20 Augen- und Ohrenzeugen.

Es war am Sonntag, dem Tag der eigentlichen Veranstaltung und zwar vormittags, dabei ziemlich dunstig. In Vorbereitung der Flugschau waren in einer Ecke bei der Halle die Experten dabei, mittels Theodolite und Pilotballon (für den Nichteingeweihten: das ist ein Gummiballon von ca. 1m Durchmesser, ungefüllt sieht er aus wie ein Elefantenpräser) den Höhenwind zu bestimmen. Oberexperte war der allseits bekannte und beliebte Freund Vinzenz aus Karl-Marx-Stadt von dem schon im 5. Kapitelchen die Rede war. Der erste Versuch ging schief. Es war das Problem der ostfriesischen Kriegsflagge: Weißer Adler auf weißem Grund. Wegen des tief liegenden Dunstes (s. o.) war der weiße Ballon bei 100 m schon nicht mehr zu erkennen. Flugs wurde sozusagen ein Arbeitskreis gebildet, der hier mögliche Lösungsvarianten diskutierte, selbst ernannter Vorsitzender war natürlich Vinzenz. Ich stand mit einigen anderen Nichttuern nur so rum und wurde damit zum Zeugen des nachfolgenden Ereignisses. (Bevor ich weiter berichte, empfehle ich dem Leser eben auf dieses Kapitel 5 zurückzugehen um die dort gegebene Beschreibung von Vinzenz aufzufrischen, was nachfolgend von einiger Bedeutung sein wird, wobei noch zu ergänzen ist, dass er leidenschaftlicher Stumpenraucher war und einen solchen gerade im Mundwinkel hatte).
Der Variantenvergleich endete damit- im Gespräch war zum Beispiel auch der Vorschlag, den Ballon einzufärben- dass Vinzenz seine Variante einstimmig annahm, die darin bestand einen Rauchkörper dranzuhängen, dann würde das schon klappen. Wie beschlossen- so ausgeführt. Der Ballon wurde gefüllt, der Rauchkörper drangehängt und in Startposition gebracht. Vinzenz zog noch mal an seinem Stumpen um richtige Glut zu erzeugen.

(Bevor er nun den Zünder in Brand setzt und die Ereignisse ihren verhängnisvollen Verlauf nehmen, muss auf einige grundlegende chemische Zusammenhänge hingewiesen werden, die V. in diesem Moment zum eigenen Schaden ignorierte: Wasserstoff + Sauerstoff= Knallgas, Knallgas + Feuer= Explosion). Und so kam es auch. Der Zünder zischte kurz, dann tat es einen gewaltigen Schlag. Vinzenz stand da, wie die Kuh wenn’s donnert. Seine runden Augen traten zentimeterweit aus dem Kopf und vor kindlichem Erstaunen stand sein Mund offen, ihn bewegte augenscheinlich ganz stark die Frage: „Was war das, wo ist er denn (der Ballon)?“.

Als nach einigen Sekunden der Stille klar war, dass der Betroffene- gleichzeitig auch der Verursacher- keinen größeren Schaden genommen hatte, gab es eine zweite Explosion. Die Umstehenden heulten vor Lachen auf, hielten sich die Bäuche und wälzten sich am Boden. Das ging minutenlang so weiter. Einen zusammenhängenden Bericht über das Geschehene zu erhalten, war für Außenstehende in den nächsten Stunden nicht möglich. Das hätten selbst die Jungs vom MfS in diesem Moment nicht geschafft. Schon auf die bloße Frage hin, was denn eigentlich geschehen wäre, antworteten die Zeugen mit neuem Gelächter, so dass der Fragesteller mit der Feststellung: „Ihr seid ja blöd!“, die Sache aufgab. Wenn ich daran denke, bekomme ich heute- nach mehr als 30 Jahren- noch einen Lachkrampf, wenn ich mir das dumme Gesicht vorstelle. So war es auch eben.

Kapitel 6: Wie es bei mir weiterging

Das wird viele nicht interessieren, denn was stört einen fremder Jammer. Die können hier aufhören. Für den Rest noch ein paar Dinge, die damals eben auch zum Fallschirmspringen gehörten bzw. einem die Sache doch etwas verleiden konnten.
Ich machte natürlich weiter, jetzt unter Kuddels Kommando, allerdings aus den bereits genannten beruflichen und familiären Gründen doch mit etwas angezogener Handbremse.‘

Das ging so bis Ende 1975, als mich zum ersten Mal eine Kadersperre traf (seit 1962 brauchte man als FS- Springer eine gesonderte Zulassung, die jährlich erteilt wurde). Dazu muss man wissen, dass im Herbst jenes Jahres ein Stralsunder Motorflieger von Neustadt aus mit einem Motorflugzeug die Fliege gemacht hatte. Sein letztes Lebenszeichen war die Anmeldung beim Tower Hamburg –Fuhlsbüttel per Funk. Es mag etwa um die gleiche Zeit gewesen sein, als ein Interflugmechaniker nebst Familie per Mistflieger in die BRD „übersiedelte“. (Das Fernsehen brachte nach der Wende eine Verfilmung dieser Geschichte).

Auf jeden Fall begann so eine Art „Christenverfolgung“, d. h. die Suche nach irgendwelchen unsicheren Kantonisten, zuerst natürlich in der Heimatsektion des Entflohenen, in Stralsund. Ich wohnte damals dummerweise auch in Stralsund und da ich ja irgendwo meinen GST- Beitrag bezahlen musste, war ich dort eben zahlendes Mitglied, mehr aber auch nicht, denn ich sprang ja in Neustadt. Bei dieser Durchforstungsaktion blieb ich auf der Strecke, ebenso ein Motorflieger (Fritz Gaikowski). Weshalb weiß ich eigentlich bis heute nicht so richtig.

Dank der Fürsprache von Kuddel und von Heinz Wolff (Magdeburg, 1975/76 im ZV der GST für Fallschirmsport zuständig) wurde ich allerdings Mitte 77 sozusagen begnadigt und konnte die nächsten beiden Jahre wieder springen. Als meine Mutter aber 1979 nach Westberlin ausreiste, war dann aber endgültig Schluss. Nach den damaligen Regeln war eine Verwandte 1. Grades im Westen ein absolutes KO- Kriterium.

So war für mich nach rund 20 Jahren die Springerei erst mal zu Ende. In dieser Zeit hatte ich es auf lediglich 545 Sprünge gebracht.

Bis zur Wende brauchte ich über eine Fortsetzung der Springerei nicht einmal nachzudenken. Es vergingen dann aber noch 3 Jahre ehe ich 1993 mal wieder auf den Platz nach Neustadt kam. Natürlich flammte die alte Liebe wieder auf und brennt nach wie vor noch ziemlich heiß. Wenn es nach meinen Wünschen geht, müsst Ihr mich auch noch eine Weile ertragen.